Leseprobe Kapitel 1

An manchen Nächten

   fällt es mir schwer, zu schlafen,

      und alle Farben werden

         zu einem farblosen Grau –

Sommernachtstraum




Nicht jedem von uns ist es erlaubt, im Leben seine wahre Leidenschaft zu finden und diese auch auszuleben. Ich habe das Glück. Nichts würde mich davon abhalten, meine Füße zum Takt der Melodie zu bewegen und mich dem Rampenlicht zu stellen, damit jeder es sehen kann.

     Es fühlt sich gut an. Wahnsinnig befriedigend. Zu schwitzen und das Gehirn ausnahmsweise vom Hier und Jetzt abzuschalten, während der Körper die Kontrolle übernimmt. Meine Sorgen, die mich eben noch erfasst hatten, verfliegen genauso rasch, wie sie gekommen sind, verdrängt von der Aufregung, die erneut von mir Besitz ergreift. Es ist mir vollkommen egal, zu was meine Füße tanzen, Hauptsache, ich bin in Bewegung.

Ich hasse Stillstand. Mehr als alles andere. Ich fühle mich leer, so gefangen in meinen Gedanken. Sobald meine Poren die Musik in sich aufnehmen, ist es anders. Alles rückt in den Hintergrund und ich bin … frei. Einfach nur Nick.

     Velcourt, unser Tanzlehrer, macht geschickt die Bewegungen vor, die wir nachahmen sollen. Wie Marionetten an Fäden, die durch seine Finger laufen, führen wir die Tanzschritte in perfekter Synchronität aus. Die Geräusche, die unsere Schuhe bei jeder Berührung mit dem Boden verursachen, hallen von den hohen Wänden wider. Er ist mit Holzdielen ausgelegt und praktischerweise gefedert, sodass er die Stoßkraft unserer Sprünge ausgleicht. Ich drehe mich mit gespreiztem Bein einmal um mich selbst und folge den Anweisungen meines Lehrers.

     »Fünf, sechs, sieben, acht«, zählt Velcourt. »Konzentration. Sehr gut«, ruft er zwischen zwei Zahlen und beginnt von vorn. Seine wachsamen Augen verfolgen jeden Schritt in dem großen Spiegel. Sie sehen alles. Jede Unsicherheit, jede Anspannung und jeden noch so kleinen Fehler.

     Velcourt ist ein begnadeter Tänzer mit enormer Erfahrung. Bereits meine Mutter tanzte bei ihm. Nicht viele Schüler halten den hohen Erwartungen stand. Denjenigen, die es schaffen, eröffnet es Türen. Aus diesem Grund ist jeder Einzelne von uns verbissen, es ihm zu beweisen.

     In seinem Kurs lernen wir Contemporary. Ein zeitgenössischer Tanzstil, der für hohe Sprünge, Moderne und Emotionalität steht. Der Stil ist festgelegt und doch irgendwie regellos. So impulsiv und gleichzeitig voller Leichtigkeit. Und genau das ist es, was mich fasziniert. Die Mischung aus verschiedenen Techniken, der Eleganz und Ästhetik des Körpers, Anspannung und Entspannung sowie Individualität und technische Perfektion.  

     Die Musik stoppt und sofort bin ich von Keuchen umgeben. Winzige Schweißtropfen perlen von meinem Hals herunter, durchnässen den Kragen meines Shirts. Mein Rücken hebt und senkt sich von den schweren Atemzügen.

Velcourt nickt zufrieden. »Danke für eure harte Arbeit. Wir machen morgen an dieser Stelle weiter.«

     Ich gehe hinüber zur Fensterfront und greife nach meiner Sporttasche, hole mein Handtuch heraus und werfe einen raschen Blick auf die große Wanduhr über dem Eingang. Gut. Mir verbleiben noch siebenundvierzig Minuten, ehe meine Schicht im Spätkauf beginnt.

     »Du hast dich verbessert«, meint eine Stimme neben mir, und als ich aufschaue, sehe ich Jessica, die sich zu ihrer Tasche hinunterbeugt, eine Flasche Wasser herausholt und mich dann mit einem strahlenden Lächeln begrüßt. Wie üblich trägt sie ein zu großes Kapuzenshirt und eine sehr figurbetonte Leggings. Nicht, dass ich mich beschwere. Meistens tanzt Jessica genau vor mir, sodass es mir manchmal schwerfällt, den Bewegungen unseres Lehrers zu folgen. »Der Sommerkurs hat sich echt bezahlt gemacht.«

     Allein der Gedanke an das Trainingsprogramm jagt mir eine neue Welle von Schmerzen durch meine müden Knochen.

     »Es war brutal.«

Sie schmunzelt liebevoll. »Aber es hat sich gelohnt. Du wirst ganz bestimmt die Hauptrolle bekommen.«

     »Dessen wäre ich mir nicht so sicher.«

     »Warum?«, fragt sie und trinkt ein paar Schlucke aus ihrer Wasserflasche. »Jeder weiß, dass du der Beste bist. Velcourt wäre blind, wenn er dich ablehnen würde.«

     Lieb gemeint, aber …

     »An seine Technik komme ich einfach nicht ran«, flüstere ich, während ich mir mit dem Handtuch den Schweiß aus dem Gesicht tupfe.

Sie muss es an meinem Tonfall herausgehört haben, denn sie blickt auf, direkt zu Kyle; im selben Moment schaut er zu uns rüber. Viel zu schnell wendet er sich wieder ab. In seinem kurzen Blick lag keinerlei Interesse – als hätte er gehört, was ich soeben gesagt habe, und entschieden, dass es die Wahrheit ist.

     »Vergleich dich nicht mit ihm«, meint Jessica. »Ihr seid zwei unterschiedliche Tänzer mit unterschiedlicher Technik und Ausstrahlung. Mach dich nicht kleiner, als du bist.«

     Ihre Worte erinnern mich an einen Ratgeber. Zwölf Lebensweisheiten. Ein bescheuertes Buch mit noch verrückteren Regeln. Wer immer dachte, zu wissen, nach welchen Spielregeln das Leben funktioniert, hat in Wahrheit keine Ahnung.

 

Regel #5: Vergleiche dich mit dem, der du gestern warst – nicht mit anderen.

 

Pah! Jeden verdammten Tag vergleichen wir uns. Es ist natürlich, so unabdingbar. Manchmal kann es echt verletzend sein und trotzdem spornt es uns an, noch besser zu werden. Der Welt den Stinkefinger zu zeigen, sich aufzuraffen und weiter an sich zu arbeiten. 

     »Glaub mir, du bist Velcourts Favorit«, setzt Jessica bestimmend fort. »Es hat einen Grund, weshalb er darauf bestanden hat, dass du an seinem Sommerprogramm teilnimmst.«

     »Könnte sein, dass er mich nur quälen wollte.«

     »Oh, oder das«, bekräftigt Jessica und kichert. »Trotzdem glaubt er an dich. So wie ich.«

     »Danke, Jess.«

Sie schultert ihre Tasche. »Wollen wir noch einen Kaffee trinken?«

     »Das geht nicht«, lehne ich widerwillig ab. »Meine Schicht im Laden beginnt gleich und danach wollte ich mich mit den Jungs treffen.« Ich hasse es, in ihr trauriges Gesicht zu blicken. »Tut mir leid.«

     »Schon gut«, versichert sie mir. »Ich hatte dich den ganzen Sommer. Die Jungs vermissen dich sicherlich.«

     Eher nerven sie mich. Besonders Philip und Colin, die mir jeden verdammten Tag geschrieben haben, was sie Tolles gemacht haben. Vermisst haben sie mich ganz bestimmt nicht. Baden am Strand, Grillen in schönen Nächten, Videospiele zocken, Kinobesuche und, und, und … Es war, als wollten sie mir unter die Nase reiben, was ich alles verpasst habe. Wenn Jessica wüsste, wie oft wir uns zwischen den Trainingspausen und an den Wochenenden geschrieben haben, würde sie das sicherlich nicht so leichtfertig behaupten.

     Kyles Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. »Bitte lassen Sie mich noch einmal für die Rolle vortanzen!«

     Überrascht schaue ich ihn an. Er hat sich vor unserem Trainer aufgebaut.

     »Das Vortanzen für die Rollen ist beendet, Kyle. Meine Entscheidung steht«, weist Velcourt ihn ab, ohne mit der Wimper zu zucken.

     »An dem Tag war ich nicht bei der Sache. Ich hatte private Probleme, die aber nun gelöst sind. Bitte, geben Sie mir noch eine Chance.«

     »Das wäre ungerecht den anderen gegenüber. Es tut mir leid, wenn du persönliche Differenzen hattest, doch darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Ich brauche Tänzer, auf die ich mich verlassen kann.«

     Beharrlich hält mein Freund seinen Standpunkt. »Ich weiß … Es wird nicht noch einmal vorkommen. Ich will Ihnen zeigen, dass ich es kann. Geben Sie mir nur eine Gelegenheit!«

     »Du hattest deine Chance.«

Mit diesen Worten wendet Velcourt sich ab, um die Trainingshalle zu verlassen. Respektvoll wird er von seinen Schülern verabschiedet. Ich hingegen fühle mit Kyle. Beim Vortanzen machte er Fehler, was unseren Trainer sichtlich enttäuschte. Wütend hat er Kyles Tanz vorzeitig unterbrochen und den Nächsten aufgerufen. Vor ein paar Tagen gab Velcourt die Rollen bekannt. Jede Rolle wurde besetzt, außer die des Romeo. Kyle sieht es als Chance, sich zu beweisen, und hat seither pausenlos trainiert. Die Blasen an seinen Füßen belegen seinen unerschütterlichen Ehrgeiz.

     »Lassen Sie es mich beweisen!«, ruft Kyle verzweifelt.

Erneut überrascht er mich. So verbissen kenne ich ihn nicht. Normalerweise trägt er seine Gefühle hinter einer eisernen Maske. Gut behütet schirmt er sie ab, transportiert nach außen ein gewissenloses Arschloch, dem alles und jeder scheißegal ist. Heute scheint es anders. In seiner Stimme höre ich panische Dringlichkeit heraus. Ein Umstand, den selbst Velcourt mit hochgezogener Augenbraue bemerkt.

     »Ich muss schon sagen, deine Hartnäckigkeit ist bewundernswert. Bedenke aber, dass es dein letzter Versuch ist, mich zu überzeugen.«

     »Vielen Dank«, sagt Kyle zufrieden.

Ich spüre Freude in mir aufsteigen. Und Erleichterung. Freude, weil Velcourt ihm trotz der Entscheidung für die Rollen eine Chance zugesteht. Erleichterung, weil seine harte Mühe nicht unbelohnt bleibt.

     Während ich ihm bei den Lockerungsübungen zusehe, bemerke ich aus dem Augenwinkel, wie Jessica abschätzig die Arme verschränkt. Ihrer Mimik zufolge ist sie ganz und gar nicht glücklich. Bevor ich sie allerdings darauf ansprechen kann, beginnt die Musik aus dem dritten Teil der Aufführung. 

     Kyles Haltung zeigt die Anfangsposition eines Schwanes: Schulterblätter zurück, Arme dicht neben dem Oberkörper eng nach hinten ausgestreckt, ein Fuß halb in der Luft. Der Beginn des Schlussakts, in dem Romeo seine geliebte Julia leblos auffindet und in seiner Trauer das Gift herunterschluckt. Der Tanz verkörpert den inneren Schmerz, die innige Liebe und die letzten Minuten seines Daseins. 

     Als Kyle anfängt, im Rhythmus der Melodie zu tanzen, ist es perfekt. Seine Körperkontrolle ist überwältigend. Als ob die Schwerkraft keinen Einfluss auf ihn hätte. Die Bewegungen sind so präzise, so grazil aufeinander abgestimmt, dass es den Eindruck erweckt, als würde sich die Zeit nach seinem Körper richten. Jeder Sprung und jede Drehung raubt mir den Atem. Eines steht fest: Wenn Kyle sich in den Klängen der Musik verliert, schafft es keiner, einfach wegzusehen. Er ist wie ein Magnet. Die Leichtigkeit in seinen Schritten, seine Haltung, die Art, wie er durch den Raum schwebt.

     Schweigend stehe ich da, beinahe ehrfürchtig. Kyle ist definitiv hier, weil er es verdient hat. Für die kommende Aufführung von Velcourts Interpretation von William Shakespeares ›Romeo und Julia‹ muss man besser als gut sein. Für die Hauptrolle braucht es Stabilität und Ausstrahlung. Alles Dinge, die Kyle vorzeigen kann.

     Viele haben mich vor ihm gewarnt. Ich solle ihm fernbleiben. Dem Störenfried mit den rot gefärbten Haaren und den Tätowierungen. Selbst meine Freunde halten nicht viel von ihm. Er sei ein schlechter Umgang und hätte keine Vorbildfunktion. Schließlich bleibt er dem Unterricht fern, isst Sachen, die nicht auf seinem Diätplan stehen, tanzt in Clubs, an Orten, die ernsthafte Tänzer in der Regel meiden. Kyle tut nur das Nötigste, um an der Schule zu bleiben, weil er weiß, dass er gut genug ist, um die entsprechenden Rollen zu bekommen. Der Junge besitzt das, wonach viele im Leben lechzen und trotzdem gnadenlos scheitern: das Fünkchen Talent, welches ihn von allen anderen unterscheidet. Und genau das ist es, was ich an ihm bewundere.

     Die Musik stoppt mit einem dramatischen Fall zu Boden. Augenblicklich springt Kyle zurück auf die Füße und sieht hoffnungsvoll zu unserem Trainer. »Und?«

     »Nicht schlecht«, bemerkt Velcourt nachdenklich. »Allerdings werde ich an meiner Entscheidung festhalten. Nick?«   

Erschrocken trete ich näher. »Ja?«

     »Ich hoffe, du hast dir für die kommenden Wochen nichts vorgenommen. Das Training wird mehr als hart. Es wird brutal.«

     Soll das etwa heißen …?

     »Verzeihen Sie, aber ich verstehe nicht …«

Velcourt klopft mir auf die Schulter. Seine Lippen ziehen sich zu einem breiten Lächeln. »Herzlichen Glückwunsch. Du wirst den Romeo für die Weihnachtsaufführung tanzen.«

     »Wieso?«, verlangt Kyle harsch. »Was habe ich falsch gemacht?«

     »Nick ist besser.« Velcourt zuckt mit den Schultern und tut so, als wäre der Tanz von Kyle nichts Besonderes gewesen. »Ich erkenne eine Verbesserung in deiner Technik, allerdings fehlt es dir an Gelassenheit. Dein Gesicht ist zu angespannt für die Hauptrolle in meinem Stück.«

     »Daran kann ich arbeiten! Bitte, Sir. Ich werde mich bis zur Aufführung verbessern.«

     Entkräftet schüttelt Velcourt den Kopf. »So etwas kann nicht innerhalb weniger Wochen erlernt werden, Kyle. Es tut mir leid. Nick bekommt den Part und das ist mein letztes Wort. Wenn du ein Problem mit meiner Entscheidung hast – niemand zwingt dich, hierzubleiben.«

     Ich sehe Kyle an, wie er mit allen Mitteln versucht, seinen Unmut für sich zu behalten. Seine Fingerknöchel sind weiß vor Anspannung und seine Augen brennen vor Unverständnis. Ich will etwas sagen, irgendetwas Aufbauendes, doch sämtliche Worte bleiben in meiner Kehle stecken. Sein feuriger Blick richtet sich gegen mich. Unweigerlich erinnert es mich an die Auseinandersetzung vor einigen Monaten vor dem Spätkauf. Heute wie damals kann ich nichts weiter tun, als teilnahmslos danebenzustehen. Es widert mich an. Meine eigene Unsicherheit ihm gegenüber.

     »Sie machen einen gewaltigen Fehler«, murmelt Kyle. Sichtlich verärgert greift er nach seinen Sachen und rempelt mich im Vorbeigehen absichtlich an. Ich versuche erst gar nicht, ihn aufzuhalten.

     »Was für ein Idiot«, beginnt Jessica, sich aufzuregen. »Er ist ein schlechter Verlierer.«

     »Er ist nur sauer.«

     »Verteidigst du ihn jetzt ernsthaft?!«

Ich zucke die Schultern. »Er ist mein Freund.«

     »Toller Freund, wenn er dir nicht einmal gratulieren kann.«

     »Freust du dich?«

Ihr strahlendes Lächeln kehrt zurück. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie stolz ich auf dich bin. Und weißt du, was das Beste daran ist?«

     »Nein?«

Sie drückt mir einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. »Ich kann meinen Freund vor allen Augen schamlos küssen und ihnen zeigen, dass du allein mir gehörst.«

     »Ziemlich besitzergreifend.«

     »Kannst du es mir verübeln?« Jessica lacht und deutet auf meine Sporttasche. »Solltest du nicht langsam los?«

     Heilige Scheiße!

     Panisch werfe ich einen Blick auf die Uhr. »Fuck! Jess!«

Schnell wechsle ich die Schuhe, um noch unter die Dusche zu springen, bevor ich mir von meinem Chef anhören muss, wie sehr ich nach meinem Training stinke und potenzielle Kunden vertreibe. Auf halbem Weg zur Tür ruft Jessica mich allerdings zurück.

     »Hast du nicht etwas vergessen?«, fragt sie schmollend.

Mit großen Schritten verringere ich den Abstand zu ihr. »Tut mir leid.« Dann versiegle ich unsere Lippen zu einem leidenschaftlichen Kuss, den sie gierig erwidert. »Ich liebe dich.«

     »Du bist ein Idiot.«

     »Den du liebst.«

     »Leider über alles.«

Sie gibt mir noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange und schiebt mich Richtung Ausgang.

 


 


Eilig haste ich aus dem Bus und biege auf dem Bürgersteig um die Ecke, lasse das dichte Wohngebiet hinter mir. Mittlerweile gießt es aus Eimern. Der Regen, der sich schon den ganzen Tag zusammengebraut hat, fällt erbarmungslos auf die Straßen der Kleinstadt. Trotz Kapuze sprüht er mir ins Gesicht.

Von Weitem erkenne ich die flackernde Leuchtreklame des Videoverleihs. Direkt gegenüber befindet sich der Spätkauf. Am Schaufenster klebt die aktuelle Werbung von Sonderangeboten. Mineralwasser, Zigaretten und verschiedene Zeitschriften.  

     Durch die Scheibe kann ich meinen Chef sehen. Die große Brille, die er zum Lesen braucht, lässt ihn nur attraktiver aussehen. Jessicas Worte – nicht meine. Aber ich muss zugeben, dass er aussieht wie ein Model, das im Leben ein paarmal falsch abgebogen ist und nun einen kleinen Laden führt, eingequetscht zwischen zwei Gebäuden. Braune Augen, gepflegter Dreitagebart und eine tiefe Stimme, die Mädchenherzen im Sturm erobert. Ernsthaft! Fünfundneunzig Prozent unserer Kunden sind hauptsächlich Schülerinnen oder Studentinnen. Dass er natürlich mit ihnen flirtet, veranlasst sie noch mehr, in den Laden zu kommen. Reine Geschäftssache.

     Heute wirkt mein Chef allerdings gestresst, denn er prüft immer wieder die Uhrzeit auf dem Handy, während er nervös an seinem Fingernagel herumkaut.

     Als das Glöckchen an der Tür meine Ankunft verkündet, löst sich seine innere Anspannung.

     »Du bist spät dran«, begrüßt er mich mürrisch.

Sofort werfe ich meine Tasche samt Jacke hinter die Theke und melde mich in der Kasse an. »Es wird nicht noch einmal vorkommen. Versprochen!«

     »Das ist das dritte Mal innerhalb einer Woche. Ich mag dich, Nick, aber wenn ich mich nicht auf dich verlassen kann–«

     »Kannst du! Bitte, Tony, ich brauche diesen Job.«

Seufzend nimmt er seinen Rucksack, bevor er mich mahnend mustert. »Das ist das allerletzte Mal, hast du mich verstanden?«

     Dankbar nicke ich eifrig.

     »Räum die Ware in die Regale. In zwei Stunden sollte ich wieder hier sein.«

Neben dem Zeitschriftenständer steht ein Karton. Wohl neue bunte Hefte, an denen sich die Gesellschaft erfreuen kann.

     Ich stelle mich stramm hin und salutiere. »Du kannst dich auf mich verlassen.«

Augenverdrehend fischt Tony in seiner Jackentasche nach seinem Autoschlüssel. »Ich hoffe, dein werter Freund weiß, dass er nach wie vor nichts in meinem Laden zu suchen hat.«

     »Er wird fernbleiben«, versichere ich ihm. »Aber ist das wirklich nötig?«

     »Und ob es das ist«, beharrt Tony stur. »Er hat mir wertvolle Kunden vertrieben. Solange die Gerüchte um ihn kreisen, will ich ihn hier nicht sehen.«

     Damit lässt er mich allein zurück.

     Ganz im Unrecht ist er nicht, denke ich, während ich beginne, das Sortiment aufzustocken.

Selbst nach Monaten wird auf den Straßen darüber gesprochen. Wie Kyle einen armen Jungen zusammengeschlagen hat. Direkt vor Tonys Laden. Sofort wird mir mulmig, denn ich kann mich noch gut daran erinnern. Meine Panik, die ich verspürte, nachdem Kyle den Jungen gegen das Metallgeländer gestoßen und angefangen hatte, auf ihn einzureden. Ich hatte versucht, meinen Freund zu beruhigen, doch er wollte sich nicht besänftigen lassen. Als er dann anfing, ihn zu schlagen, habe ich in meiner Verzweiflung Evan angerufen.

     Der Junge, der zusammengeschlagen wurde, war kein anderer als Justin Erikson, Adoptivsohn des Chefchirurgen, der ein großzügiger Spender unserer Schule ist. Nachdem er herausgefunden hatte, was passiert ist, ließ er Kyle suspendieren und machte es ihm schwer, wieder zurückzukommen. Danach heiratete er Justins Mutter und half ihrem Sohn, wo er nur konnte. Das schloss zahlreiche Geldgeschenke ein, was seinen Ruf an der Schule enorm verbesserte.

     Für Kyle hatte das Ganze weitreichende Konsequenzen. Durch eine Anklage wegen Körperverletzung und das beachtliche Schmerzensgeld, auf welches Dr. Erikson bestanden hatte, musste Kyle die Tanzschule verlassen. Er konnte sich die Stunden nicht mehr leisten. Innerhalb kürzester Zeit wurde ihm der Stempel als Problemkind aufgedrückt. Angeblich würde er Drogen nehmen und Mitglied der Gang sein, die auf den Straßen für Unruhe sorgt.

     Die meisten haben ihn mittlerweile abgeschrieben – durch sein Umfeld wird er es zu nichts bringen. Ganz gleich, wie begabt er auch ist.

     Und dennoch schaffte Kyle es, ihnen den Stinkefinger zu zeigen. Nach nur wenigen Wochen kehrte er in Velcourts Kurs zurück. Noch besser. Noch motivierter. Ich habe keine Ahnung, wie er unseren Trainer überzeugen konnte, aber ich freue mich aufrichtig für ihn und seine zweite Chance.

     Eines hat es mich gelehrt: Die Menschen in dieser Kleinstadt urteilen zu schnell. Es ist zum Kotzen. Manchmal wünschte ich, sie würden aufhören, sich in die Angelegenheiten anderer einzumischen. Allein die Hauptüberschrift dieser Klatschzeitschrift bringt mein Blut in Wallung.

     Versöhnung? Anwaltsstar Blackwell auf Modenschau in Mailand gesichtet.

     Das hat sie nicht zu interessieren! Es ist privat. Ich frage mich, wie Adams Vater das aushält.

Das Türglöckchen gibt einen blechernen Ton von sich, als zwei Frauen den Laden betreten. Sie beachten mich nicht, sondern laufen direkt zu den Kühlschränken im hinteren Bereich.

     Ich lege die letzte Zeitschrift an ihren Platz und trete aus dem Gang. »Kann ich Ihnen helfen?«, frage ich höflich.

     »Oh! Hallo, Nick«, sagt Mrs. Jensen sichtlich überrascht. »Ich habe nicht gewusst, dass du heute im Laden bist.«

Ich lächele. »Wie geht es Ihnen?«

     »Wenn mein Ehemann aufhören würde, zu rauchen, könnte ich nicht meckern.«

     »Ein übles Laster«, gibt ihre Freundin zum Besten. »So verantwortungslos. Spätestens bei der gewünschten Schwangerschaft sollte er dringlich aufhören.«

     Oh nein, denke ich mir. Ich kenne die Frau zwar nicht persönlich, doch allein durch ihr Auftreten und ihren unterschwelligen Ton weiß ich, dass sie gern über andere redet.

     Ich schlucke meinen bissigen Kommentar herunter und trete stattdessen hinter die Theke.

     »Wie geht es dir?«, fragt Mrs. Jensen interessiert und deutet über meine Schulter auf eine bestimmte Zigarettenmarke.

     »Gut, schätze ich.« Ich angle das gewünschte Päckchen vom Metallregal. »Sonst noch was?«

     Sie gibt mir zwei Wasserflaschen.  »Und Philip?«

Bevor ich ihr antworten kann, setzt ihre Freundin genervt an: »Wie soll es dem Jungen schon gehen? Hast du es nicht gehört? Sein Vater soll sturzbetrunken auf der Arbeit erschienen sein. Betrunken! Kannst du dir das vorstellen? Bin gespannt, ob ihn das den Job kosten wird.«

     »Sie tun mir alle so leid. Fast ein Jahr ist vergangen und es scheint, als wäre für sie die Zeit stehen geblieben.«  

     »Pah! Ich finde es nur schade für Olivia. Das Mädchen war so ein fröhliches Wesen, doch nun ist es nur noch ein Schatten seiner selbst. Ich hoffe, sie schafft ihren Abschluss und kann von Neuem anfangen.«

     »Sie ist zäh«, stimmt Mrs. Jensen zu.

     »Anders als Ryan.« Das Gesicht ihrer Freundin zeigt nichts außer Tadel und Spott. »Ich sag’s dir, aus ihm wird nichts werden.«

     »Gib ihm Zeit. Mein Mann glaubt fest an ihn.«

Ihr Mann, David Jensen, ist der Sheriff unserer beliebten Kleinstadt und ein wahres Vorbild. Jung, dynamisch, aufmerksam. Ein Mensch, der sich gewissenhaft und mit viel Ehrgeiz für die Belange seiner Mitmenschen einsetzt. Doch das erkennt diese aufgetakelte Frau nicht.

     »Höchst unwahrscheinlich. Sein Kollege Vance ist derselben Meinung. Ryan sollte lieber für seine Familie da sein und sich um eine anständige Arbeit bemühen. Wenn er nicht aufpasst, wird er genauso enden wie sein –«

     »Es reicht!«, unterbreche ich sie schneidend.

Während Mrs. Jensen mich mitfühlend betrachtet, verziehen sich die Lippen ihrer Freundin zu einem hochnäsigen Grinsen.

     »Was?« In ihren Augen blitzt Erheiterung. »Habe ich etwas Falsches gesagt? Du kannst nicht abstreiten, dass es die Wahrheit ist. Dein Freund Philip ist umgeben von Versagern. Einen Nichtsnutz als Vater und einen Träumer als Bruder. Das kann nicht gut gehen. Es würde mich nicht wundern, wenn Ryan in diesem schäbigen Nachtclub seinen Rausch ausschläft und Drogen konsumiert.«

     »Sie haben doch keine Ahnung! Sie wissen nichts! Absolut gar nichts!« So ruhig wie möglich scanne ich die Waren ab. »Wenn Sie jetzt bitte den Laden verlassen würden.«

     »Was erlaubst du dir eigentlich?!«

     »Hör auf«, beschwichtigt Mrs. Jensen ihre Freundin und schiebt mir ein paar Dollar hinüber. »Wir sind hier fertig. Warte bitte draußen auf mich.«

     Wütend schultert die Frau ihre Handtasche. »Das wird Konsequenzen für dich haben, Junge!«

Ich schaue nicht auf. Zwar brodelt in mir ein Sturm aus Hass und Verachtung ihr gegenüber, trotzdem siegt die Angst, dass sie ihre Drohung wahr machen könnte. Schließlich hängt Tony an seinen Kunden.

Erst als das Glöckchen klingelt, löst sich meine Starre.

     »Das tut mir so leid, Nick.«

Ich reiße den Kassenbon ab und lege das Wechselgeld auf die Theke. »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Das hätte ich nicht sagen dürfen.«

     »Sie hat dich bewusst provoziert«, schimpft Mrs. Jensen. »Ich werde mit ihr reden und zur Not auch mit Tony. Dich trifft keine Schuld.«

     »Ich frage mich, ob das Leben hier so langweilig ist. Warum können sich manche Leute nicht einfach um ihren eigenen Kram kümmern?«, will ich wissen.

     »Tja, das wird niemals passieren. Das würde ihnen doch den ganzen Spaß rauben.«

 


 


Ein kalter Windzug fegt durch das bunte Blätterkleid der Bäume und lässt es leise rascheln. Die Dunkelheit hält bereits Einzug, durchbrochen durch das warme Licht der Straßenlaternen. Obwohl es nicht länger regnet, fließt das Wasser noch immer von den Bürgersteigen hinunter und trägt farbige Blätter mit sich, als wolle es die Jahreszeit einfach so davontreiben.

     Der Gehweg steigt sanft an und führt mich an einer Allee aus Bäumen und Reihenhäusern vorbei. In manchen Fenstern brennt Licht. Mittlerweile ist es kurz nach achtzehn Uhr. Während wohl die meisten am Abendbrottisch sitzen, um von ihren Erlebnissen des Tages zu berichten, werden andere noch in der Universität festhängen. Wieder andere hoffen auf ein geregeltes Leben und die Sicherheit einer Familie.

     Unweigerlich muss ich an meinen Freund denken. Die letzten Monate waren hart –

sauhart. Ich sehe Justin und seine Footballfreunde noch genau vor mir, wie sie auf dem Schulflur ihre Köpfe zusammensteckten und tuschelten. Als Philip an ihnen vorbeiging, hörten sie auf und wandten ihre Blicke ab. Dann fingen alle an, zu lachen. Zu gern hätte ich sie davon abgehalten, doch es hätte nichts an der Situation geändert. Es hätte sie nur angespornt, weiterzumachen …

     Trotzdem fühle ich mich wie ein Feigling. Ich weiß nicht, warum sie Philip im Visier haben. Ich schätze, seine zurückhaltende Art und die Tatsache, dass er nach dem Tod seiner Mom zu einer leichteren Zielscheibe geworden ist, sind ein ausschlaggebender Punkt für ihre Hänseleien. Und dann wären da noch die Gerüchte um Mr. Hale und Ryan, die selbst jetzt in zigtausend Varianten weitererzählt werden. Dass Mr. Hale trinkt, psychisch labil ist, mit der gesamten Situation maßlos überfordert. Dass Ryan Drogen nimmt, zynisch ist und hin und wieder die Kontrolle verliert. Die Sätze, die über ihre Familie fallen, sind verletzend. Niederschmetternd. Niemand wäre in der Lage, dauerhaft wegzuhören. Selbst wenn es nur schreckliche Lügen sind.

     Seufzend bleibe ich stehen. Da ist es. Philips altes Haus. Es gleicht den anderen Backsteinhäusern in dieser Straße, denen es an jeglicher Individualität und Wärme fehlt. Doch Mrs. Hale gab sich immer Mühe. Mit Blumenbeeten und farbenfrohen Vorhängen. Nun ist davon kaum etwas übrig.

     Das Handy in meiner Hosentasche vibriert.

     Eine Textnachricht von Edward.

 

Chat „Love-Hate“

Edward, Nick

08.10.2015, 18:42 Uhr

 

 

                                    Ed

                                    Kommst du später zum Wohnwagen?

                                   

Ich setze mich in Bewegung. 

 

                                                                                                                                                                                                                                                                                           Awww, vermisst du mich etwa? 🥺

 

                                    Ed

                                    Pfff, als ob.

                                    Ja oder nein?

 

                                                                                                                                                                                                                                                                                           Jaaaa ~

                                                                                                                                                                                                                                                                                           Holst du mich ab?

 

                                    Ed

                                    Wer bin ich? Dein persönlicher Chauffeur?

 

                                                                                                                                                                                                                                                                                           Bitteeeee \(•◡•)/

 

Auch wenn Edward nicht antwortet, weiß ich, dass er mich abholen kommt. In mich hinein grinsend, sehe ich hoch. Die bescheidenen Doppelhaushälften befinden sich genau zwischen dem besseren Wohnviertel und dem chaotischeren Stadtteil der Ärmeren. 

     Leise schließe ich die Haustür auf. Ich lege die Schlüssel auf dem Sideboard ab und ziehe die Schuhe aus.

Mom wuselt in der Küche herum. Lange ist sie noch nicht zu Hause. Sie trägt noch ihre Arbeitssachen. Wenn sie in einem anderen gesellschaftlichen Stand leben würde, würde man meine Mutter als hübsch bezeichnen. Unter ihren Kleidern ist sie schlank, hohe Wangenknochen mit langen Wimpern. Ihr braunes Haar ist immer zu einem Knoten gebunden.

      »Was gibt’s zu essen?«, frage ich.

      »Nudeln mit Hackbällchen«, antwortet sie etwas beschämt. »Für mehr war keine Zeit.«

Der massive Tisch ist bereits gedeckt, sodass ich den Stuhl beiseite schiebe und mich setze. Schon wieder knallt dabei die Lehne gegen die helle Küchenzeile hinter mir. Innerlich verdrehe ich die Augen. Andauernd ist es das Gleiche. Der dunkle Tisch ist viel zu groß für die Küche, doch Mom kann sich einfach nicht von ihm trennen.

      Kein Wunder, denke ich und fahre mit den Fingerkuppen die Kratzer im Holz nach. Schließlich ist er einer der wenigen Erbstücke, die meine Großeltern hinterlassen haben. Trotz der Unannehmlichkeiten durch die enormen Maße gibt er dem Raum eine gewisse Präsenz. Ein wenig Wärme und Sicherheit. Erinnerungen an alte Tage, an denen jeder Stuhl besetzt war.

      Das Einzige, was sich in der Küche verändert hat, sind die Wände. Nach Dads Auszug brauchte Mom einen Tapetenwechsel. Von einem dominanten Rot zu Sonnengelb.

     »Riecht gut«, werfe ich ein.

Ein paar Minuten lang sitzen wir schweigend da – eine angenehme Stille, die uns nicht sonderlich stört. Der Schein der Hängelampe untermalt die Ruhe im Raum.

     »Du bist spät dran«, bemerkt Mom, während sie ihren Teller mit Nudeln füllt.

     Wow. Das ist schon das zweite Mal heute, dass ich diesen Satz höre.

     »Tut mir leid. Training ging länger. Die Vorbereitungen für die Weihnachtsaufführung stehen an.«

     »Heißt das, du wirst die nächsten Tage spät nach Hause kommen?«

     »Ja, tut mir leid«, wiederhole ich. »Aber es ist wichtig. Es könnte mir helfen, ein Stipendium für meine Traumuniversität zu bekommen. Du weißt ja, wie das ist.«

     Sie nickt bedächtig. »Ehrgeiz ist gut. Ich mache mir nur Sorgen, dass du dir zu viel zumutest. Zwischen Schule, Abschlussprüfung, Tanztraining und dem Aushilfsjob im Spätkauf. Da bleibt kaum Zeit für dich.«

     »Es ist genug«, beschwichtige ich.

     »Und? Wie war das Training?«, versucht Mom, das Thema zu wechseln. »Irgendwelche Neuigkeiten?«

     »Selbst wenn es etwas gäbe, würde ich nicht darüber reden, solange ich es nicht schwarz auf weiß gesehen habe.«

     »Selbst wenn es etwas gäbe … aha«, sagt Mom scharfsinnig. »Also gibt es etwas. Raus damit. Was ist es?«

Ich schiebe ein paar Nudeln mit der Gabel umher. »Es geht um die Hauptrolle für die Weihnachtsaufführung«, murmle ich.

      »›Romeo und Julia‹?«

      »Velcourt hat mir die Rolle versprochen.«

      »Wunderbar«, sagt Mom voller Freude. »Ich liebe das Theaterstück, doch die Interpretation von Velcourt bringt es noch viel intensiver rüber. Hast du gewusst, dass ich damals die Julia getanzt habe?«

      »Wirklich?«

Sie nickt eifrig. »Allein dank dieser Aufführung erhielt ich ein Stipendium. Ich bin so stolz auf dich.«

      »Danke. So ganz kann ich es nicht glauben.«

      »Es ist unglaublich«, pflichtet Mom mir bei. »Warum das lange Gesicht?«

Ich seufze entkräftet. »Kyle. Er schien nicht gerade glücklich.«

      »Wäre er dein Freund, würde er sich freuen.«

      »Er ist mein Freund!«

      »Ich wünschte, du würdest dich nicht länger mit ihm herumtreiben. Die Leute reden schon.«

      »Dann lass sie reden. Mir ist egal, was sie sagen.«

      »Schatz –«

      »Ist dir die Meinung anderer wichtig?«

      »Natürlich nicht.« Ihre rasche Antwort überrascht mich. »Wenn dem so wäre, müsste ich dir verbieten, mit Ryan oder Edward befreundet zu sein. Die beiden sind anständige Kinder, trotz der unzähligen Herausforderungen, die das Leben ihnen aufbürdet.«

      »Kyle –«

      »Ist anders«, unterbricht sie mich scharf. »Es tut mir leid. Ich will dich nicht bevormunden. Sei nur vorsichtig. Es gibt Menschen, die zwar freundlich tun, doch nur auf den günstigen Augenblick warten, um dir das Messer in die Brust zu rammen.«

      Wir essen so schweigend weiter, wie wir angefangen haben. Das Klingeln von Moms Handys unterbricht uns. Ihre Augen spiegeln ihren Frust wider.

      »Krankenhaus?«, frage ich vorsichtig.

Sie fährt sich müde durch das Gesicht. »Momentan ist dort die Hölle los. Die nächste Krankenschwester hat sich krankgemeldet.« Schuldig sieht sie auf meinen Teller. »Tut mir leid.«

      »Dafür kannst du nichts«, meine ich verständnisvoll.

Mom nickt zwar, aber ich weiß, dass es sie stört. Dass sie in den vergangenen Wochen kaum zu Hause war und mehr Zeit im Krankenhaus als hier mit mir verbringt. Ich versichere ihr, dass es okay ist. Immerhin habe ich selbst viel zu erledigen.

      Ich beobachte Mom, wie sie ihre Jacke, Tasche und den Autoschlüssel zusammensucht.

      »Nick?«

      »Ja?«

      »Pass auf dich auf und überanstreng dich nicht. Es ist okay, auch einmal die Handbremse zu ziehen.« Ihr Lächeln sieht ein wenig gequält aus.

      »Ich bin fast am Ziel. Ich kann jetzt nicht aufhören.«

Ihre Finger gleiten über mein Haar bis zum Nacken. »Übertreib es nicht«, sagt sie.

      Ich gebe ihr das Versprechen. Dann geht sie.

Sofort wird mir komisch. Meine Worte waren leichtsinnig ausgesprochen. Ich kann nichts versprechen, woran ich mich niemals halten würde, denn ich will es zu sehr. Das Gefühl, das mich umfängt, wenn meine Füße zum Beat tanzen. Es ist schwer zu beschreiben. Ich fühle mich leichter. Ich bin … ich. Einfach nur Nick, der das Tanzen über alles liebt und der Welt beweisen will, dass er es kann.

      Und ich kann es. Wenn man mir die Chance dafür einräumt.

    Das Brummen meines Handys weckt meine Aufmerksamkeit. Innerhalb weniger Sekunden vibriert es. Die Ein-gänge mehrerer Textnachrichten erscheinen auf dem Display.

                                                                                                                                                                                                        

                                    Colin

                                    Wir sind da!

                                    Kommst du endlich?

                                    Hey Lahmarsch! Wie lange willst du uns noch warten lassen???

                                    Oh, bleib lieber zu Hause.

                                    Ed sieht so aus, als würde er jeden Moment platzen.

 

                                                                                                                                                                                                                                                                                Mensch, Col, du nervst!

                                                                                               Gib mir 5 min.

 

                                    Colin

                                    3

 

                                    Ed

                                    Jetzt beweg endlich deinen Hintern! Sonst fahre ich ohne dich los!

 

Nett. Wieso sind wir überhaupt miteinander befreundet?

Kopfschüttelnd stelle ich den nun leeren Teller in die Spüle und will nach meiner Jacke greifen, als etwas meine Neugier erregt. Unter dem Tisch liegt ein zerknüllter Zettel. Ein Brief. Unsicher überfliege ich die Zeilen.

      Offene Rechnung. Mahnung. Strom abstellen.

      Haben wir Schwierigkeiten?

Wir sind nicht sonderlich reich, aber bislang ging ich davon aus, dass wir alles gut im Griff hätten. Klar, Mom arbeitet mehr als zuvor. Doch ich dachte, es läge an dem wenigen Personal.

Sofort packt mich das schlechte Gewissen. Ich habe sie so dermaßen angefleht, mich in das Sommerprogramm einzuschreiben, dass ich unsere finanzielle Lage völlig vergessen habe.

Vielleicht sollte ich mit meinem Chef sprechen. Ein paar Extraschichten würden sicherlich nicht schaden.