Leseprobe Kapitel 1

Allein in meinem Zimmer,

   starre ich in eine leere Tasse.

      Ich fülle sie auf,

         mit naiven Hoffnungen und Wünschen –

Frühlingsschmetterlinge




Meine Mom fährt mich mit heruntergelassenen Scheiben zurück zu Dad. Die Luft ist erdrückend schwül, selbst nachdem die Sonne verschwunden ist und sich über uns ein sternenklarer Nachthimmel spannt.

Schweigen füllt das Auto. Eine angespannte Stille, die keiner von uns beiden beenden möchte. Es ist jedes Mal das Gleiche. Es ist genauso anstrengend wie unvermeidbar.

     Seitdem Mom ihre Koffer gepackt hat, sehe ich sie nur an den Wochenenden. Sie lebt bei ihrer besten Freundin Tatjana, die ein gefragtes Model bei den verschiedensten Designern ist. Sie ist nett, liebevoll, witzig, aber auch ziemlich verrückt. Ich meine, ihre Wohnung besteht aus zig Regalen, vollgestellt mit dem Merch ihrer Lieblingsband BTS. Stoffpuppen, CDs, DVDs, Figuren – egal, was das Label der K-Pop-Gruppe veröffentlicht, sie hat es in ihren vier Wänden stehen.

     Ich fahre mir mit den Fingern über die Stirn und sehe aus dem Seitenfenster. Kaum jemand ist auf den Fußwegen. Die meisten sind zu Hause, spülen das Geschirr vom Abendessen, bereiten sich auf die neue Woche vor, während die Kleinen in ihren Betten schlafen oder die Großen vor dem Fernseher hocken.

     Ein Hauch von Sehnsucht nach alten Zeiten überrollt mich, doch ich dränge das Gefühl ganz weit in die hinterste Schublade meiner Gedanken zurück. Stattdessen schaue ich auf die Uhr am Autoradio.

     Die Fahrt von der Wohnung ihrer Freundin zu unserem Haus dauert knapp eine halbe Stunde. Nur dieses Mal kommt es mir länger vor. Mom lenkt den Wagen auf eine Hauptverkehrsstraße. Sie fährt mit Absicht langsamer. Sie will Zeit schinden. Dabei wissen wir beide, dass sie ihren Flieger nach New York niemals verpassen würde.

     »Adam«, sagt Mom mit sanfter Stimme. »Ist es wirklich okay für dich?«

     »Mach dir keine Sorgen. Mir fehlt nichts.«

     »Es muss schwer für dich sein.« Sie macht eine Pause. »Ich wünschte, ich könnte es ändern.«

     »Du könntest zurückkommen«, raune ich frustriert.

Sie starrt mich an – zuerst überrascht, dann verletzt. Sofort bereue ich meinen verärgerten Ton. Mir ist bewusst, dass sie keine Schuld trifft, deswegen rudere ich zurück. »Tut mir leid.«

     Die Ampel springt auf Grün.

     »Nein, du hast recht«, erwidert Mom mit einem dünnen Lächeln. »Wenn ich aufhören würde, vor deinem Vater wegzurennen …«

     »Was ist zwischen euch passiert?«, versuche ich zum hundertsten und letzten Mal, sie aus der Reserve zu locken. Niemand will mir verraten, weswegen sie sich gestritten haben. Selbst Tatjana verliert kein Wort darüber. Was sie einiges an Überwindung kosten muss, denn normalerweise fällt es ihr nicht schwer, die unverblümte Wahrheit auszusprechen.

     »Es ist –«

     »– kompliziert«, beende ich seufzend ihren Satz. »Ich weiß.«

Sie schürzt die Lippen. Ihr langes blondes Haar weht leicht im Fahrtwind und in ihrem roten Jumpsuit sehe ich vor meinem inneren Auge bereits die Modemagazine der nächsten Woche, die ihre neue Kollektion für karrierebewusste Frauen anpreisen werden.

     Viele meinen, ich sehe meiner Mom ähnlich. Nur eben männlicher, mit kurzen Haaren und Leberflecken auf der Haut, die ihre ganz eigene Galaxie bilden könnten.

Ich bemühe mich, ein freundliches Gesicht aufzusetzen. »Es ist in Ordnung. Wirklich«, beteuere ich. »Du hast dein Modelabel, Dad hat seine Kanzlei und Andrew sorgt sich um seinen Abschluss. Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich komme klar.«

     Ich bin schon immer ein miserabler Lügner gewesen. Doch Sätze wie »Es geht mir gut«, »Es ist in Ordnung« oder – mein absoluter Favorit – »Ich komme klar« sprudeln so überzeugend über meine Lippen, dass ich sie beinahe selbst glaube.

     Ich höre den Blinker und sehe auf die Straße. Der Wagen wird langsamer und Mom bringt die Reifen auf der Auffahrt zum Stehen. Als sie die Scheinwerfer ausschaltet, ist das Haus vor mir nur noch ein schwarzer Klotz. Gelegentlich zieht hinter mir ein schwaches Licht vorüber, wenn ein Auto die Straße entlangfährt. Die Spitzen der Gartenlaternen weisen mir den Weg zur Veranda. Doch die Lampen sind aus. Und auch die Fenster sind dunkel.

     »Adam –«

     »Es ist okay«, schneide ich ihr das Wort ab. Ich kann ihr dabei nicht in ihre großen, kindlichen Augen schauen.

     »Wir könnten zurückfahren«, bietet sie mir an.

Das bringt mich zum Lächeln. »Und du nimmst mich mit nach New York? Zwischen vollgepackten Koffern deiner Modekollektion, den kreischenden Mädels, Blitzlichtgewitter der Reporter und deiner verrückten Freundin, die in jeder freien Minute versucht, mich zu verkuppeln?« Ich löse den Sicherheitsgurt. »Nein danke, Mom. Zumal Dad mir das niemals erlauben würde. Er wäre empört über die Vorstellung, wie verantwortungslos ihr wärt, allein auf die Idee zu kommen, einen Minderjährigen auf solche Veranstaltungen mitzunehmen.«

     »Als wäre dein Dad mit seinen wichtigen Geschäftsessen besser«, grummelt sie. »Obwohl ich gestehen muss, dass Tatjana etwas … nun ja … speziell ist.«

     »Sehr speziell«, setze ich nach. »Sie schläft mit den Kuscheltieren ihrer Lieblingsband in einem Bett. Eine erwachsene Frau, Mom!«

     Sie lacht amüsiert. »Haben wir nicht alle unseren ganz eigenen Tick? Sie himmelt eine Musikgruppe an, ich rede im Schlaf und dein Dad prüft jedes Mal die Zimmer, dass alle Geräte ausgeschaltet sind, bevor er das Haus verlässt.«

     »Großartig. Was ist meiner?«

     »Sieh auf die Rückbank und du wirst es wissen«, sagt sie, um mir auf die Sprünge zu helfen.

Meine Wangen glühen. Hinter mir liegt mein Kissen, ohne das ich nicht einschlafen kann.

     »D-Das ist etwas anderes!«, verteidige ich mich.

     »Ach ja?«

     »Ja!«

Ich umfasse den Türgriff und schaue auf die Veranda.

     »Schatz«, hält Mom mich auf. »Ich will dich nicht allein lassen …«

Ich trete nach draußen. Zum ersten Mal sucht sie unsicher nach den passenden Sätzen. Allerdings kann sie an ihrer misslichen Lage kaum etwas ändern.

      »Grüß Tatjana von mir«, nehme ich ihr die Entscheidung ab.    

     »Mach ich«, sagt sie. Ihre Stirn glättet sich. »Hab dich lieb, mein Schatz. Und meld dich mal, ja? Meine Mädchen würden es verstehen, falls ich vorzeitig abreisen müsste.«

     Sie meint es ehrlich, auch wenn ich erkenne, welches Opfer sie bringt, um mir dieses Versprechen zu geben.

Ich beuge mich vor, um sie anzusehen. »Könntest du mir einen Gefallen tun?«

     Keine Antwort.

     »Hör auf, dir Sorgen zu machen. Es geht mir gut.«

     »Ich arbeite dran«, antwortet sie.

Schmunzelnd nehme ich das Kissen von der Rückbank. »Wir sehen uns nächstes Wochenende.«

     Der Motor springt an und ich winke ihr solange zu, bis der Wagen aus meinem Sichtfeld verschwunden ist.

Aus der Hosentasche fische ich den Hausschlüssel hervor und gehe direkt hoch auf mein Zimmer. Ich gebe mir nicht die Mühe, zu rufen, dass ich zu Hause bin, oder zu schauen, ob Dad nicht doch da ist. Die bedrückende Stille verrät mir, dass ich vollkommen allein bin.

     Eigentlich hatten wir geplant, heute Abend zusammen zu essen. Etwas, das wir aufgrund des hektischen Zeitplans meines Dads und der großen Menge an Hausaufgaben seit Langem nicht mehr getan haben. Zumindest ist das der Grund, mit dem ich meine Vielbeschäftigung ihm gegenüber rechtfertige. 

     Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass die Recherche zu dem Thema Vom kreativen Schreiben zum Romanautor als Schularbeit durchgehen würde.

     Tief einatmend gehe ich zum Schreibtisch und schalte die Tischlampe an. Im selben Atemzug werfe ich mein Kissen aufs Bett und packe die Sachen aus dem Rucksack zurück in die Schubladen. Mit Zahnpasta, Shampoo und Duschgel in den Händen trete ich ins Badezimmer. Unter der Regendusche genieße ich das Prasseln des warmen Wassers auf meiner Haut. Einige Minuten stehe ich still da, bis sich meine verkrampften Muskeln langsam entspannen.

     Zurück in meinem Zimmer, krame ich den bequemsten Pullover heraus, den ich besitze, und trete ans Fenster – der BMW steht nicht da. Dad ist noch immer nicht zu Hause.

    Langsam verstehe ich, weshalb Mom ihre Koffer gepackt hat und zu ihrer Freundin gezogen ist. Ich glaube, sie haben sich gestritten, weil sie sich einsam fühlte. Leider scheint Dad das nicht zu begreifen. Er lebt praktisch in seinem Büro. Seit der Auseinandersetzung mehr als zuvor. An den Tagen, an denen ich bei ihm bin, sehe ich ihn meist nur zum Frühstück, bevor er sich seinen Aktenkoffer schnappt und erst spät am Abend zurückkommt.

Mittlerweile habe ich es aufgegeben, mit ihm darüber zu reden. Wir drehen uns im Kreis, sagen Dinge aus Frust, die wir nicht meinen. Ich versuche, zu verstehen, dass er verletzt ist und sich mit der Arbeit ablenkt. Doch … es schmerzt.       Zusehen zu müssen, dass wir uns alle immer weiter voneinander entfernen, anstatt offen über unsere Probleme zu sprechen.

     Während mein Laptop hochfährt, eile ich in die Küche, auf der Suche nach einem Snack. Am Kühlschrank klebt ein Zettel, der nur die nötigsten Informationen enthält.

     Notfall im Büro. Essen in der Mikrowelle. Hab dich lieb.

Kopfschüttelnd nehme ich den Zettel und werfe ihn in den Müll. Rein aus Protest mache ich mir eine Schüssel Erdnüsse zurecht.

     Wieder in meinem Zimmer, lasse ich mich schwerfällig auf das weiche Polster meines Stuhls fallen und öffne mein Schreibprogramm. Innerlich debattierend, worüber ich schreiben könnte, starre ich auf das leere Dokument.

Das hier ist meine andere Seite. Eine Seite, die ich bislang nur einer einzigen Person anvertraut habe. Keiner aus meiner Familie hat eine Ahnung davon, was ich in meiner Freizeit gern mache. Nicht einmal Mom. Sie glaubt, dass ich in Lehrbücher vertieft bin, akribisch mein Wissen erweitere, um später in die Fußstapfen meines Dads zu treten. Es ist traurig, doch für meine Familie steht Erfolg an oberster Stelle. Hervorragende Noten, Auszeichnungen, Pokale – egal was, Hauptsache, man fällt positiv auf.

     Nur mein Bruder Andrew scheint zu ahnen, was wirklich in mir vorgeht. Sein fürsorgliches Verhalten mir gegenüber sowie die Blicke sprechen Bände. Manchmal möchte ich ihn dafür hassen, dass er von heute auf morgen ausgezogen ist. Wäre er in Dads Fußstapfen getreten, könnte ich tun und lassen, was ich will. Aber mein Bruder verfolgt nun seine eigenen Träume, die im starken Kontrast zu den Vorstellungen unseres Dads stehen. Deshalb ruht sein ganzer Fokus auf mir. Nicht, dass ich mich für Andrew nicht freuen würde. Es ist nur so unfassbar schwer, den Erwartungen gerecht zu werden.

     Ich sehe Mom nur an den Wochenenden. Und Dad …

Das Problem mit ihm ist, dass es nur wenige Sachen gibt, worüber wir außerhalb seiner Geschäfte reden können. Wir sind beide keine großen Plaudertaschen. In seiner Gegenwart spüre ich nur den Druck, ihn nicht allzu sehr zu enttäuschen. Bereits von klein auf sind Forderungen an mich gestellt worden, die ich kaum begreifen konnte. Ich bin der Sohn eines erfolgreichen Anwalts und einer der schönsten Mode-Ikonen. Dementsprechend habe ich mich zu benehmen. Von mir wird erwartet, dass ich stark, dominant und in allen Aspekten überlegen bin. Aber ich bin nur ein schüchterner Junge mit kindlichen Träumen, der es nicht einmal zwei Sekunden in einem Versammlungssaal aushält.

     Ist das Charles Blackwells Sohn?

     Wir alle haben hohe Erwartungen an ihn.

     Also ich würde mein Vertrauen nicht in ihn setzen.

     Er ist noch ein Kind. Vielleicht wächst er in seine Aufgaben hinein.

     Da wäre ich mir nicht so sicher. Meine Tochter benimmt sich bereits reifer. Ich wünschte, sein älterer Bruder wäre geblieben. Ihm hätte ich zugetraut, die Bürde zu tragen.

     Was für eine Enttäuschung.

Das Schlimmste an diesen Worten ist, dass ich sie nicht aus zweiter Hand erfahren habe. Nein, ich stand neben dem Haufen aufgetakelter Frauen, die nichts Besseres zu tun hatten, als über den Nachfolger ihres Arbeitgebers zu lästern. Jede von ihnen möchte sehen, wie weit das goldene Kind es bringt, bevor es kläglich auf die Nase fällt. Sie respektieren mich nicht, weil sie glauben, mich zu kennen. Das hyperaktive Balg, das rein äußerlich nie irgendwo reinpassen würde.

Eigentlich sollte ich genauso sportlich sein wie Andrew, sonnengebräunt, maskuline Züge vorweisen und vor Tatendrang sprühen. Stattdessen ist meine Haut blass. Ich bin schon immer schlank gewesen, aber nie muskulös. Eher eine wandelnde Katastrophe auf viel zu langen Beinen und mit zwei linken Händen.

    Meine Finger stoppen auf der Tastatur. Ich höre die Reifen auf dem Pflaster der Auffahrt. Der Motor wird ausgeschaltet, gefolgt vom Zuwerfen der Tür. Es dauert nicht lange, da vernehme ich Schritte auf den Stufen.

In einer hastigen Bewegung greife ich blindlings nach einem Buch, um beschäftigt zu wirken. Natürlich erwischt meine Hand die Schüssel Erdnüsse, die ich prekärerweise auf der Schreibtischkante abgestellt habe.

     Als die Tür aufgeht und Dad hereinschaut, scheint er nicht sonderlich überrascht zu sein, seinen Sohn auf dem Fußboden vorzufinden.

     »Adam?«

     »Ja, Dad?«, antworte ich, das Gesicht im Teppich vergraben, in dem Versuch, die Erdnuss zu greifen, die unter den Schreibtisch gerollt ist. Endlich erwische ich dieses Mistding! Triumphierend springe ich auf und begegne dem ungläubigen Blick von Dad.

     »Was machst du?«, fragt er und hebt eine Augenbraue.

     »Nichts«, murmle ich.

Dad verzieht die Lippen zu einer schmalen Linie. Beschämt weiche ich ihm aus. Ich ahne, was ihm durch den Kopf schießt. Das hier ist mein Sohn. In einem grässlichen roten Pullover, obwohl es draußen stickig schwül ist, und in dem Versuch, das angestellte Chaos zu beseitigen.

     »Ich habe eine Bitte an dich.«

     »Was denn?« Ich bin schon jetzt nicht begeistert, weil er an dich gesagt hat, anstatt nur eine Bitte.

     »Nimm dir für morgen Abend nichts vor.«

     »Weshalb?«

     »Im Hilton findet eine Wohltätigkeitsveranstaltung statt, zu der ich eingeladen wurde.«

     »Aber –«

     »Keine Widerworte. Du weißt, dass es wichtig ist, bei solchen Veranstaltungen präsent zu sein. Oder kannst du mir erklären, wie meine Kollegen Vertrauen zu dir fassen sollen, wenn du ihnen keine Beachtung schenkst? Es wird einmal deine Aufgabe sein, sie zu leiten. Je früher du damit anfängst, desto besser.«

     Er spuckt mir diese Sätze praktisch ins Gesicht. Habe ich etwas anderes aus seinem Mund erwartet? – Natürlich nicht. Für ihn stehen die Interessen seiner Kanzlei immer noch über meinen eigenen. Dem Bild, das er in den Kreisen seiner Klienten und Partner formt, habe ich zu entsprechen. Ohne die Wahl auf Widerruf.

     »Ich weiß«, gebe ich mich geschlagen.

Dad seufzt entkräftet. »Ich will nur das Beste für dich. Für deine Zukunft. Nimm es mir bitte nicht übel.«

     »Werd ich nicht.«

    »Es …« Er unterbricht sich selbst, hadert wenige Sekunden, bevor er wieder ansetzt. »Ich habe es mit Renée abgesprochen und wir beide sind uns einig, dass es dir guttun würde, mehr unter Menschen zu kommen. Sie meint, dass du in den letzten Wochen nur selten dein Zimmer verlässt.«

     »Bist du dir sicher, dass du mir damit nur helfen willst, oder geht es nicht vielmehr darum, mich deinen Kollegen vorzuführen?«

     Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, liege ich mit meiner Vermutung goldrichtig.

     »Das eine schließt das andere nicht aus. Wir machen uns Sorgen.«

War klar. Immerhin denkt Mom auch, dass ich in meinem Schneckenhaus lebe, weil ich es schwer in der Schule hätte. Newsflash: Habe ich nicht. Ich entscheide bewusst, meine Mitschüler zu ignorieren, die meinen, sie könnten mich ausnutzen oder in eine Ecke drängen. Die Flure sind voll von falschen Gesichtern. Nur wenn man genauer hinschaut, erkennt man die Lücken in ihrer Mimik. Das Zucken ihrer Mundwinkel, die sich angestrengt nach oben schieben. Die verkrampfte Haltung, sobald jemand vor ihren Augen gehänselt wird. Die meisten Schüler versuchen nur, den Tag ohne nennenswerte Vorfälle hinter sich zu bringen. Das ist aber auch schon der einzige Punkt, an dem wir uns alle ähneln.

     Ein schweres Aufatmen lässt mich hochschauen.

     »Hast du mir zugehört?«, fragt Dad und allein anhand seines Tonfalls weiß ich, dass er enttäuscht ist.

     »Entschuldige«, räume ich ein. »Könntest du es wiederholen?«

     »Was ist nur los mit dir? In letzter Zeit wirkst du so zerstreut. Wenn es wegen Renée und mir ist …«

     »Ist es nicht.« Zumindest nicht hauptsächlich, füge ich in Gedanken hinzu.

     »Vielleicht wird es gar nicht so schlimm, wie du vermutest. Erinnerst du dich an Mrs. Morrison?«

     »Nein«, antworte ich viel zu schnell.

    »Wirklich?« Dad sieht mich ungläubig an. »Ihre Familie ist erst kürzlich zurückgezogen. Ihr Sohn Derek wird ebenfalls an dem Essen teilnehmen. Du hast dich doch gut mit ihm verstanden.«

     Das ist eindeutig untertrieben. Wir waren beste Freunde. Ich konnte in seiner Gegenwart derjenige sein, der ich sein wollte. Ohne den ständigen Druck und die Erwartungshaltung von Außenstehenden. Leider hielt unsere Freundschaft nicht auf Dauer. Denn aus mir unerklärlichen Gründen war ich plötzlich Luft für ihn. Als hätten wir nicht gemeinsam die Nachbarschaft erkundet, stundenlang Videospiele gespielt und uns unsere geheimsten Träume anvertraut. Und dann war er weg. Einfach so. Ohne ein Wort zu sagen. Sämtliche Nachrichten und Anrufe blieben unbeantwortet.

Derek hat mich aus seinem Leben gestrichen. Und jetzt ist er zurück. Offen gestanden habe ich keine Ahnung, was ich darüber denken soll. Ihn ausgerechnet bei einem Geschäftsessen wiederzusehen, ist das Letzte, was ich möchte.

     Meine Augen huschen zu meinem Laptop, im Kopf die Zeilen, die meine Finger bis eben getippt haben.

     »Worüber denkst du nach?«, fragt Dad und in seiner Stimme höre ich die unterschwellige Sorge.

     »Gar nichts.«

     »Hattest du bereits andere Pläne?«

     »Ja«, schnaube ich und werfe die Hände hoch. »Ein Date mit meinem Laptop. Allein. In meinem Zimmer. Klingt verlockend.«

     »Adam.«

Ich verdrehe die Augen. »Nein, Dad. Ich habe morgen nichts Besseres vor, als dich bei der Veranstaltung zu begleiten und einem Freund zu begegnen, der sich wie ein Arsch verhalten hat.«

     »Vielleicht hatte er seine Gründe.«

     »Ja, vielleicht«, brumme ich.

Hilft es mir in diesem Moment? Eher weniger. Ich werde trotzdem gezwungen, unter den Menschen zu sein, die ich nicht ausstehen kann.

     Für mehrere Sekunden stehen wir beide unbeholfen da. Ich warte. Auf was genau, weiß ich nicht. Auf ein Wunder, die Einsicht, auf einen Satz, der den Kloß in meiner Kehle verschwinden lassen könnte. Eine kleine Geste würde genügen.

     Aber Dad wendet sich ab. Bevor er allerdings die Tür hinter sich schließt, dreht er sich noch einmal dem Haufen Gliedmaßen, der sein Sohn ist, und den Krümeln auf dem Teppich zu. »Und du bist dir sicher, dass es dir gut geht?«, fragt er.

      Seine Worte dröhnen in meinen Ohren. Und du bist dir sicher, dass es dir gut geht?

     Selbstverständlich, denke ich verbittert. Ich habe bloß meine Lieblingserdnüsse auf dem Boden verteilt, als wären sie ihre eigenen Konstellationen von Sternbildern, verbringe die meiste Zeit vor meinem Laptop und verfasse Texte, von denen ich überzeugt bin, dass sie dich enttäuschen. Ich halte mich auf Abstand. Von deinen Klienten und Partnern, von den typischen Grüppchen in der Schule, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.

     All das liegt mir auf den Lippen, allerdings …

     »Mir fehlt nichts, Dad«, antworte ich in der Hoffnung, dass ihm das kleine Lächeln ausreicht, um ihn von meinen Worten zu überzeugen.

     Das tut es nicht. Er hat die Lüge sofort durchschaut, doch er tut sie mit einem Schulterzucken ab. Wohl ein Versuch, mir Freiraum zu geben.

     Wirklich, der beste Dad, den man sich wünschen kann.

     »Sehen wir uns morgen zum Frühstück?«, frage ich.

     »Sicher. Mach heute nicht mehr zu lange.«

     »Du auch.«

Die Zimmertür wird zugezogen.

     Ich wende mich meinem Schreibtisch zu und verfluche meine Ungeschicklichkeit, die das Chaos verursacht hat. Widerwillig hole ich den Staubsauger.

     Ich bin mir sicher, irgendwo auf der Welt passiert gerade etwas Magisches. Freunde, die sich ein Versprechen geben. Ein Paar, das sich in dieser schwülen Sommernacht seine innigste Liebe gesteht. Polizisten, die Menschenleben retten. Und ich stehe in meinem Zimmer und sauge die Überreste meiner Erdnüsse auf.

     Ich gebe es zu: Mein Leben ist öde. Absolut langweilig. Ich bin gefangen in einer Spirale, aus der ich nicht ausbrechen kann. Zumindest nicht, bis ich es schaffe, meine Maske abzuwerfen.

     Mein Hals wird dick.

     Eine Maske …

 

              Ohne Titel, 29.06.2014

 

                 Ich glaube, es gibt eine schmale Linie zwischen Wahrheit und Lüge. Wir stehen genau an der Weggabelung,                 an der sich die Linie in zwei Hälften teilt. In ein Gesicht, das wir offen der Welt präsentieren, und ein Gesicht,               das wir tief in unserem Innersten tragen. Auch ich bin ein Teil davon, führe zwei Masken mit mir, ohne zu                  wissen, welche mein wahres Ich ist.